Grayton Beach State Park

Wir sind mitten in einem Reservat. Hier, so verkündet es der Prospekt des State Parks, soll die Natur so aussehen, wie sie war, bevor der erste Spanier seinen spanischen Fuß auf die indianische Erde gesetzt hat. Noch sieht sie nicht so aus, aber man arbeitet daran, indem man das gleiche macht wie die Indianer, nämlich im Wesentlichen nichts. Zum Glück für uns übertreibt man es aber auch nicht mit dem Wir-lassen-die-Natur-in-Ruhe und hat ein paar Häuser in die immer wilder werdende Wildnis hineingebaut, „Cabins“ genannt, was leicht untertrieben ist, denn Onkel Tom wäre überglücklich gewesen, hätte er solch eine Hütte sein Eigen nennen dürfen. Er hätte wohl auch ein ganzes Monatsgehalt ausgeben müssen, um auch nur eine Nacht in einer solchen Hütte zu verbringen, nämlich 125 $. Dafür hat der moderne Hüttenbewohner aber auch einen Parkplatz vor der Tür, zwei Schlafzimmer, einen Living Room mit elektrischem Fireplace, eine überdachte Terrasse, und natürlich von der Klimaanlage bis zum Geschirrspüler alles, was einem den Aufenthalt in der Wildnis eines State Parks angenehm macht. Als wir unsere Koffer hereinrollten, war es dank Klimaanlage drinnen angenehm kühl, im Kühlschrank warteten die Eiswürfel auf ihren Einsatz. Auf der Terrasse standen zwei Schaukelstühle, ältere Modelle, unbequeme Dinger, aber das zählt nicht. Was zählt, ist, dass man wie Onkel Tom und seine Nachkommen relaxed auf der Terrasse sitzen kann, schön im Schatten, vor sich nur der werdende Palmen-, Pinien-, Krüppeleichen- und so weiter Dschungel, Grillengezirpe, schnatternde Vögel und das Geräusch des nahen Highway 98, der mitten durch den Statepark führt. Rein Geräuschmäßig also wie in der Heimat.

Von unserer Cabin aus – die übrigens „Rock Rose“ heißt, keine Ahnung, was das bedeutet, kann ich jetzt auch nicht ergoogeln, denn als Zugeständnis an den Wilderness-Charakter durchziehen weder TV- noch WLAN-Schwingungen das Areal, ja selbst das Handy sucht vergeblich nach potenten Strahlungen - führt ein kleiner beschilderter Fußweg in 10 Minuten zum Strand, teilweise ein Trampelpfad durchs Gebüsch, teilweise auch über eine Strasse oder über das, was von einer Strasse noch übrig ist, wenn man sie 40 Jahre in der Sonne Floridas brüten lässt und kein Fahrzeug die Natur daran hindern darf, das Stück Menschwerk zu zerstören. Nicht über diese Strasse also, aber über eine neu asphaltierten Weg kann man den Beach auch mit dem Auto erreichen. Aber nur fast, denn wir sind in einem Wildnis-Reservat, und da vor den Dünen abstellen und kann nicht, wie im benachbarten Grayton Beach, mit dem Auto bis ans Wasser fahren.

Vielleicht bleibt man ja sowieso am besten im Schaukelstuhl auf der Terrasse sitzen und wartet auf die Wildtiere. Ein sehr aneinander hängendes Libellenpärchen habe ich schon gesehen, und drei grüne Eidechsen, die über den Fliegendraht gelaufen sind. Ach, der Fliegendraht: Fast hätte ich vergessen zu erwähnen, dass die ganze Terrasse mit Fliegendraht abgeschirmt ist, man sitzt dort fast ein bisschen wie im Gefängnis oder wie im Zoo, nur umgekehrt: Der Mensch sitzt hinter Gittern und draußen ziehen die Wildtiere vorbei. Diese Assoziation geht aber in die Irre: Das Fliegengitter schützt uns vor den Wildtieren. Vor wilden Fliegen beispielsweise, auch vor den verschiedenen Mückenarten Floridas, die, glaubt man den Reiseführern, keineswegs auf der Liste der gefährdeten Arten stehen. Es sollen sich da draußen aber auch größere Tiere herumtreiben, welche wird nicht verraten, aber die Ranger warnen nachdrücklich davor, Lebensmittel auf der Terrasse zu lagern. Nicht vor der Terrasse, sondern auf der Terrasse, es muss hier also wilde Tiere geben, die fähig sind, einen Fliegendraht zu überwinden, irgendwelche Nagetiere vielleicht. Man sieht dran, dass das „Wildlife“ hier im State Park nicht so harmlos ist. Jedenfalls nicht so harmlos, wie es die fünf pastellfarbenen Plaketten vorgaukeln, die über dem Kamin hängen. Lauter nette Tiere lächeln mich von dort an, darunter eine Schildkröte und der unvermeidliche Delphin. Ja, liebe Leute, so malen Kinder Tiere, weil ihnen ihre Kindergärtnerinnen, die Tiere auch nur aus Filmen und Bilderbüchern kennen, es ihnen so vorgemalt haben. Aber wir, die wir hier auf der Terrasse im Dunkeln sitzen und jetzt, wo die LKW-Fahrer auf dem Highway 98 längst schon mit einem Bier vor dem TV in ihrem Motel sitzen, hören, wie es auf der anderen Seite des Fliegendrahts im dunklen Gebüsch raschelt, wie ab und zu ein Vogel krächzt und ein Zweiglein kracht, wir wissen, dass Tiere nicht immer lächeln.

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