Dr. Dieter Esser - eine Art Nachruf

 

Links Dieter Esser mit Schultüte



Er hat nicht mehr angerufen, auch auf WhatsApp keine Nachrichten mehr geschickt. Fand ich merkwürdig. Immer wieder hatte er sich gemeldet, wenn er einen neuen Text geschrieben hatte beispielsweise, wenn ich ihm einen Flug buchen sollte oder um an mich irgendein politisches Statement weiterzuleiten, das er irgendwo gefunden hatte.

Aber seitdem er im Herbst aus der Intensivstation des Krankenhauses eine Whatsapp-Nachricht geschrieben hatte, kam nichts mehr. Ich habe dann mal nachgefragt. Gut, die Lungenentzündung sei vorbei, hat er gesagt, er habe noch einmal die Kurve gekriegt.

Dann wieder nichts, bis ich ihn angerufen habe. Ach, er habe keine Zeit, er müsse bis um 8 Uhr abends Nachhilfestunden geben. Und mal wieder eine Flugreise? Ja, vielleicht Ostern.


Eine gute Woche vor seinem Tod habe ich anläßlich der Eröffnung einer Ausstellung von Werken seines guten Freundes W. eine Rede gehalten. Ich war mir sicher, er würde kommen. Kam aber nicht. Sein Künstler-Freund meinte, Dieter habe sich schon seit einiger Zeit nicht bei ihm in der Eifel blicken lassen. Obwohl der Dienstag doch ein fester Termin war. Dienstags konnte man Dieter nicht ansprechen, da musste er zu W. In die Eifel. Dieter habe so starke Rückenschmerzen, meinte W.


10 Tage später hat Dieters Sohn mich über den Tod informiert. Auf der Karte: keine Todesursache, nicht mal eine Andeutung.


Dieter hat sich umgebracht, war mein erster Gedanke. Nicht von ungefähr: Er hatte öfters davon gesprochen, wenn er es nicht mehr schaffen würde, die Stufen zu seiner Wohnung herauf zu gehen, würde er „Schluß machen“. Dann werde er nicht lange fackeln, hatte er gesagt, er habe sich das alles schon genau überlegt.

Ach, was man so dahinredet, wenn der eigene Tod noch in weiter Ferne zu sein scheint, hatte ich mir gedacht.


Es war abwärts gegangen mit seiner Gesundheit, das war unübersehbar. Wenn wir in der Ville spazieren gegangen waren, hatte er immer öfters eine Zigarettenpause eingelegt, einlegen müssen. Dass ihm die vielen Zigaretten - immer starker Tabak, meist selbstgedreht ohne Filter - nicht gut taten, war jedem klar.

Aber er wollte nicht krank sein. Gut, wer will das schon. Bei ihm war es aber noch etwas anderes. Stolz hatte er mir mehrmals erzählt, er sei während seiner 40 Jahre als Lehrer nur ein einziges Mal krank gewesen. Wegen Schnupfen oder Husten daheim bleiben? Kommt nicht in Frage, hart sei der Mann. Er ist auch nicht zum Arzt gegangen, nur mal zum Zahnarzt oder wegen der Schmerzen in den Knien, die ihn plagten. Dieser ganze Arztkram - war das nicht Weibersache?


Dabei war er ein Risikofall, wie er im Lehrbuch steht: Starker Raucher, zu viel Alkohol, immer weniger Bewegung, ungesunde Ernährung, wegen seiner Körpergröße anfällig für orthopädische Defekte. Früher hat er mal Basketball gespielt, hat er erzählt. Und sei viel gepaddelt auf dem Liblarer See, hat er erzählt. Seltsamerweise habe ich ihn da nie gesehen in seinem Boot, obwohl ich doch viele Jahre lang ständig zum Segeln am Liblarer See gewesen bin. Aber als Segler schaut man über Paddler gerne hinweg …


In der Schulzeit war er kein großer Sportler gewesen, wäre mir aufgefallen, denn der Sportunterricht war mir wichtig und ich war stolz, wenn ich irgendwelche Übungen an irgendwelchen Geräten konnte, die die anderen nicht konnten. Ach ja, und Fußball hat er gespielt, das haben wir Jungen im Dorf ja alle, auf irgendeiner Wiese Fußball gespielt. Aber auch das hat er nicht ernsthaft betrieben. Als er mir nach ein paar Jahrzehnten erzählt hat, er habe aktiv im Liblarer Fußballclub gespielt, hat mich das überrascht.



Tatsächlich ist Dieter - oder Hans-Dieter, wie er damals hieß - immer da gewesen. Die Familie Esser wohnte in Liblar auf der Bahnhofstrasse wie wir. Vielleicht hundert Meter Richtung Bahnhof und Brikettfabrik auf der anderen Straßenseite. Und so kannten wir uns schon aus dem Sandkasten, dann verbrachten wir die gesamte Kindergartenzeit in der gleichen Kindergartengruppe bei „Tante Ursula


Man kannte sich auf der Bahnhofstrasse, obwohl wir Zugezogene waren, die in einem eher bescheidenen Neubau wohnten, und die Essers alte Oberliblarer, die in einem der alten Häuser auf der anderen Straßenseite wohnten. Dieters Großmutter, die Frau Weishaar, ging immer zusammen mit meiner Tante Lene, die bei uns im Haus wohnte, in die katholische Kirche. Jeden Tag, und zwar nüchtern, denn wer nicht nüchtern war, so wollten es damals die Regeln, durfte nicht zur Kommunion gehen. Und samstags, wenn morgens keine Messe war, trafen sie sich abends zur Samstagsandacht.


Dieter und ich gingen auch oft in die Kirche, denn kaum waren wir Grundschüler geworden - wir waren in der gleichen Klasse, denn in der katholischen Volksschule Oberliblar gab es nur eine Klasse pro Jahrgang - wurden wir Messdiener. Selbstverständlich sozusagen, denn Dieters Eltern und meine Eltern gingen auch jeden Sonntag in die Kirche und in meiner Welt gab es - übertrieben gesagt - gar keine Menschen, die nicht in die Kirche gingen. Dieter zeigte als Messdiener mehr Engagement als ich, er war bald so eine Art Liebling des Pastors und Obermessdiener in einer Zeit, als ich mich - ich weiß nicht mehr warum - von der Messdienerei zurück gezogen hatte.


In der Grundschulzeit zogen die Essers auf die Heidebroichstraße, das war etwas weiter weg von uns, nicht nur entfernungsmäßig, denn in diesem Teil des Dorfes wohnten viele Braunkohlearbeiter in nicht allzu schönen Werkswohnungen. Dieters Eltern aber bezogen einen Neubau, direkt neben der Metzgerei, und ich erinnere mich noch genau, wie nebenan die Schweine quiekten, wenn der Metzger zum Messer griff. Das Geräusch kannte ich, denn meine Eltern hatten in den 50er Jahren auch mehrmals bei uns in der Garage ein Schwein schlachten und fachmännisch zerlegen lassen.


Die Essers waren keine Braunkohlearbeiter. Dieters Vater war Angestellter bei der Bahn. Der ehemals prächtige Liblarer Bahnhof lag direkt hinter dem Grundstück der Essers. Viel Betrieb herrschte damals dort, nicht nur wegen der zahlreichen Pendler, sondern weil auf den Gleisen auch die Waggons für die Brikettfabrik verschoben und zu Zügen zusammengestellt wurden. Dieters Vater trug eine schicke Uniform, welche Funktion er genau hatte, weiß ich nicht. Manchmal verkaufte er auch Fahrkarten, wenn ich kam, um mir eine neue Monatskarte ausstellen zu lassen, hatte er viel Arbeit, denn meine Karte war ein Sonderfall, es galt, mit der Hand eine Monatskarte auszustellen, die gleichermaßen für die Bahn wie für den Postbus galt.


Von Dieters Vater hab ich nicht viel mitbekommen. Seine Mutter aber war immer da und kümmerte sich um alles. Wenn Dieter Kindergeburtstag feierte, durften wir ins „gute Zimmer“ und bekamen dort Mengen an Torten. Einmal habe ich dort so viel Buttercreme-Torte gegessen, dass mir noch lange schlecht gewesen ist. Dergleichen kannte ich nicht, meine Mutter backte zwar für jeden Sonntag einen Kuchen, aber keine Buttercreme.


Da Dieter und ich gute Schüler waren, war es keine Frage, dass wir nach dem 4. Schuljahr die Volksschule verlassen würden. Eigentlich. Aber Dieter wollte nicht. Er wollte weiter mit seinen Freunden aus dem Oberdorf in die Schule gehen und schrieb mit Absicht schlechte Noten. Hat ihm nichts genutzt. Die Mutter setzte durch, dass er zusammen mit mir zur Aufnahmeprüfung für das Brühler Gymnasium fuhr, die wir beide ohne Probleme bestanden haben.


Dann mussten wir also von Oberliblar eine Bahnstation Richtung Köln bis Brühl-Kierberg fahren, morgens um 7.18 Uhr. Und dann 1,6 km zu Fuß bis zum altsprachlichen Gymnasium mitten in Brühl. Altsprachlich, das hatte meine Mutter gewollte und Dieters Mutter überredet. Uns hatte niemand gefragt, hatte uns auch nicht interessiert.


Nun lernten wir also Latein ab der Klasse 5 und Dieter war bald Klassenbester und Liebling des Latein- und Klassenlehrers. Mathematik war nicht so seine Sache, da hat ihm meine Mutter ab und an Nachhilfestunden gegeben. Ich hingegen war, so sehe ich es heute, auf dem sprachlichen Gymnasium fehl am Platze. Das Vokalbellernen fiel mir schwer, die griechischen Vokabeln wollten nicht in meinen Kopf, Englisch dann machte mir gar keinen Spass. Dieter konnte immer alle Vokabeln, glänzte bei jedem Test, hatte immer die Grammatik parat. Musterschüler, Streber, sagten einige, denn es war unübersehbar, dass er den Lehrern zu gefallen suchte. Für mich war das nicht einfach, denn meine Mutter pflegte, wenn Dieter mal wieder eine „Eins“ und ich nur ein „Befriedigend“ hatte, zu sagen: Wenn Du so fleißig wärst wie der Dieter, dann hättest Du auch solche Noten.


War ich aber nicht, ich interessierte mich damals mehr für den Stabilbaukasten, bastelte Flugmodelle, beschäftigte mich stundenlang mit meiner elektrischen Eisenbahn. Dieter interessierte das alles nicht, weshalb wir uns außerhalb der Schule gar nicht mehr sahen. Er hatte auch eine elektrische Eisenbahn, genauer: Sein Vater hatte ihm eine feine Anlage auf einer großen Platte aufgebaut, mit allem Drum und Dran. Aber Dieter spielte kaum damit, und wenn, dann testete er aus, wie schnell man die Lok durch die Kurve brausen lassen konnte, bis sie entgleiste. Oder ließ mit großem Vergnügen Züge zusammenstoßen.


Alles Handwerkliche - und dabei ist es geblieben - war ihm zuwider. Viel später erzählte er mir einmal, wie sehr er es gehasst hatte, dass seine Frau ihn gezwungen hatte, in den Baumarkt oder zu IKEA zu fahren. Und nach seiner Scheidung hat er es genossen, buchstäblich nichts mehr selbst zu machen.


Schon während der Gymnasialzeit hat er geraucht, jede Menge. Nun war das damals nicht so etwas besonderes. Rauchende Schüler hatten auf dem Schulhof eine eigenes kleines Gebäude und einige Lehrer rauchten auch während des Unterrichts - der Griechisch-Lehrer pflegte die Kippen aus dem Fenster zu werfen. Wir haben alle mal gepafft, aber bei Dieter war es etwas anderes. Er hatte schon in der Grundschulzeit mit Freunden aus dem Oberdorf heimlich „geflöppt“, während ich längere Zeit gebraucht hatte, bis mir klar geworden war, was der Ausdruck „Flöppen“ überhaupt bedeutete. Dieter hat schon damals mit einer, wie soll ich sagen, bestimmten Gier geraucht.


Außer in der Schule sahen wir uns, wie gesagt, praktisch gar nicht mehr. Dieter lernte oder hing mit seinen Freunden aus dem Oberdorf rum, ich hatte das Segeln entdeckt und verbrachte jedes Wochenende im Segelclub. Auch die gemeinsamen Bahnfahrten ins Gymnasium endeten, da ich es irgendwann vorgezogen habe, mit dem Bus zu fahren. Das war war etwas unbequemer als die Hinfahrt mit der Bahn, aber unten in Liblar an der Bushaltestelle warteten auch die Mädchen, die ins Mädchengymnasium nach Brühl gefahren sind, ein für einen pubertären Jüngling unschlagbares Argument.


Dass die beste Freundin eines dieser Mädchen, denen ich damals durchaus ungeschickt und wenig glücklich nachgestellt habe, dann Dieters Frau geworden ist, hab ich erst Jahrzehnte später erfahren. Dieter knüpfte keine Kontakte zu Mädchen. Wollte er, der Obermessdiener, Pfarrer werden? Er ging nicht zur Tanzschule und ich kann mich nicht erinnern, dass er auf den Schulbällen im Gymnasium, bei denen wir Jungens zu Klängen von Live-Musik aufgeregt zu den Mädels-Tischen gehen mussten, um eine Auserwählte zum Tanz aufzufordern, sich hätte blicken lassen.


Er gehörte sowieso nicht zu denen aus der Klasse, die intensiv die Charts verfolgten und über die verschiedenen Bands diskutierten. Deshalb hat es mich ein wenig gewundert, als er in der Oberstufe in Liblar als Diskjockey aufgetreten ist. Das waren Veranstaltungen, zu denen die gesamte Jugend der Umgebung geströmt ist. Na ja, nicht die gesamte, denn ich ich bin nie hingegangen. Dieter aber war da in seinem Element, denn neben einem Talent für alte und neue Sprachen besaß er ein ausgesprochenes Show-Talent. Das erprobte er öfters in der Schulklasse, wenn er zur Begeisterung von uns Mitschülern sich vorne ans Pult setzte und unsere Lehrer imitierte. Da war er plötzlich nicht mehr der Streber, der alles daran setzte, seinen Lehrern zu gefallen, sondern ein genauer Beobachter und scharfer Kritiker ebendieser Lehrer. Was er genau dachte, wusste man nie so genau. Viel später hat er mir mal erzählt, dass er unseren Religions-, Philosophie-, Deutsch- und Klassenlehrer, den Herrn Dr. Dr. H., gehasst hätte. Davon habe ich damals nichts gemerkt.


Davon konnte ich nichts merken, denn ebendieser Herr Dr. Dr. verschaffte seinem Lieblingsschüler Dieter direkt nach dem Abitur ein vortreffliches Stipendium bei einer katholischen Stiftung. Während ich mühsam und widerwillig meinen Wehrdienst ableistete, konnte Dieter, der aus irgendeinem Grund als „untauglich“ eingestuft worden war, bequem in Köln sein Studium beginnen: Alte Sprachen und Englisch - was sonst? Finanziell sehr entspannt, da er zu Hause wohnen blieb und immer mit seinem Auto zur Uni gefahren ist.


In der Uni Köln, wo ich dann ab dem Hauptstudium auch studiert habe, habe ich ihn nie gesehen. Das mag daran liegen, dass er zu dem Zeitpunkt, als ich in Köln angefangen habe, schon fertig mit seinem Studium gewesen ist. Denn schon bald war er den Professoren wegen seiner enormen  Vokalbel- und Grammatikkenntnisse und seines enormen Fleißes aufgefallen. Das endete damit, dass er zu einem Zeitpunkt, an dem der Normalstudent so gerade seine ersten Hauptseminararbeiten schreibt, schon seine Dissertation fertig hatte. Das Staatsexamen legte er erst nach dem Doktorexamen ab. Nun stand ihm der Weg zu einer akademischen Karriere offen. Allein - er wollte nicht. Es spielte sich das gleiche ab wie beim Wechsel auf das Gymnasium: Die Assistentenstelllen, die ihm angeboten wurden, waren nicht an der Universität Köln, er hätte sein geliebtes Liblar verlassen müssen.


Also schlug er die Stellen aus und wurde Referendar im Schuldienst. Seinen katholischen Connections verdankte er eine Referendarstelle an einer Nonnenschule. Die Nonnen waren begeistert von ihm und wollten ihn direkt da behalten. Aber das Nonnengymnasium war ihm zu weit weg von Liblar: 80 km. So kam er ans Ville-Gymnasium in Liblar, an dem er bis zur Pensionierung geblieben ist. Er wird schnell befördert, Studienrat, Oberstudienrat, Studiendirektor, Tätigigkeit als Referendarausbilder, alles kein Problem. Daneben schreibt er erfolgreiche Ratgeber und Lernhilfen für Schüler. Und warum ist er nicht Oberstudiendirektor und Schulleiter geworden? Wieder das gleiche: Der Schulleiterposten in Liblar war besetzt und Liblar war doch so schön …


In der Zeit muß er geheiratet haben. Weil wir uns damals nicht gesehen haben, weiß ich über diese Ehe, die auf manchen Ebenen sehr unglücklich verlaufen sein muss, nicht viel. Das Ende jedenfalls, so hat er mir später erzählt, muss einigermaßen schrecklich gewesen sein. Das Ende seiner Frau, die früh gestorben ist, auch.


Ich habe ihn in diesen Jahren nur einmal gesehen, in der Kirche in Oberliblar anläßlich der Beerdigung meines Vaters oder der goldenen Hochzeit meiner Eltern. Er duzte sich mit dem Pastor - nicht mehr dem unserer Meßdienerzeit, sondern dessen Nachfolger - und ich dachte; Guck an, der Dieter ist immer noch so fromm wie damals. Ein Irrtum, denn als ich ihn später - wir waren gemeinsam unterwegs - einmal fragte, ob er Lust habe, mit mir einen Gottesdienst zu besuchen, hat er das geradezu brüsk zurück gewiesen. Nein, sagte er, mit der Kirche habe er nichts mehr zu tun. 


Irgendwann traf ich mal einen alten Bekannten aus Oberliblar, auch ein ehemaliger Messdiener. Wir plauderten über die alten Zeiten und kamen auf Dieter. Der treibt sich ja heutzutage mit blutjungen Mädels rum, meinte mein Bekannter. Na gut, dachte ich mir, der wird ihn wohl mal gesehen haben, als er mit Schülerinnen in der Eisdiele war. Diese Eisdiele liebte Dieter, es war sozusagen sein Stammcafé, in welchem er immer draußen saß, um rauchen zu können, und mit den Inhabern italienisch plauderte.


Erst später habe ich von Dieter selbst erfahren, was an dem Dorfklatsch von den blutjungen Mädels dran war: Er hatte, als er schon aus dem Elternhaus in der Heidebroichstraße, dass er zusammen mit seiner Frau erweitert hatte, ausgezogen war, eine ebenso heiße wie unglückliche Affäre mit einer jungen Frau. Aber wie das so ist mit alten Männern und jungen Frauen: Die Männer sonnen sich im Glanze ihrer Eroberung, finden Freuden, die sie in ihrer Ehe nicht gefunden haben, und übersehen ganz, dass die jungen Frauen ihre eigenen Interessen haben, die auf Dauer wenig kompatibel zu denen des alternden Herren sind. Es kam zu Eifersuchtszenen, die junge Frau wollte sich nicht einfangen lassen, bestand auf ihrem Eigenleben. Eine schmerzliche Trennung folgte und Dieter beschloss, wie er selbst sagte, dass er nun aus dem Alter der Beziehungskämpfe heraus sei.


Also wohnte er fortan alleine in seinem Appartement über den Dächern von Liblar. In der Zeit hatten wir Abituriententreffen und wir haben uns nach langer Zeit wieder einmal gesehen. Dann öfters, denn er hatte einige Manuskripte in der Schublade und ich bot ihm an, ihm beim Büchermachen zu helfen.


Das erste Manuskript aus seiner Schublade war ein recht umfänglicher Roman, in dem er sich seine Frustration über seine gescheiterte Ehe von der Seele geschrieben hatte. Frauen, so der Tenor, sollten richtige Frauen bleiben und Männer richtige Männer, dann würde das auch wieder klappen mit den Beziehungen. Dass dergleichen nicht so recht marktgerecht ist, sah er bald ein. Wir haben dann drei Kapitel umgearbeitet und entschärft, es aber bald aufgegeben.


Aus dem zweiten Manuskript ist dann sein erstes literarisches Werk geworden, ein ganz spannender, ein wenig düsterer Roman ohne größere Botschaft. Diesen Roman hat er in der Aula des Ville-Gymnasiums einem recht großen Publikum präsentiert und er hat sich auch ganz gut verkauft.


Aber - keine Ahnung warum - er hat das nicht wiederholt. Er hat viele Bücher angefangen, mir zugeschickt und gefragt, was ich davon halte, aber das jeweilige Werk oder die Skizzen nie ausgeführt, es blieb bei Ansätzen und Geschichten. Daraus haben wir dann zwei Bücher gemacht, die sich mangels Werbung gar nicht gut verkauft haben. Er war frustriert, aber weiterhin überzeugt von seinen literarischen Fähigkeiten. 


Zunächst folgte sein Buch über Oberliblar. Da hat er ohne größere Ansprüche vom Leben im alten Oberliblar erzählt, alles durch die rosarote Brille der Nostalgie gesehen. Dieses Buch ist gut angekommen, es hat sich trotz mangelnder Werbung ganz gut verkauft.


Er wollte allerdings mehr, wollte als ernsthafter Autor ernst genommen werden. Leider hatte er da sein Talent ziemlich überschätzt. Seine Bücher, so meinte er, würden sich nur nicht verkaufen, weil sie nicht in einem richtigen Verlag erschienen waren. Also verschickte er Exposees an die großen Verlage - und erhielt nie eine Antwort. Zuletzt hat er sich noch einmal einen Ruck gegeben und ein angefangenes Werk tatsächlich fertig geschrieben. Einen Zukunftsroman, in dem er dem Publikum (wohl allzu deutlich) einige seiner politischen Ansichten verdeutlichen wollte. Wieder hat kein Verlag zugegriffen, so dass ich das Buch gemacht habe, wieder machte er keine Werbung, wieder hat kaum jemand den Roman gekauft.


Seine politischen Ansichten waren sowieso ein Problem. Als Schüler hat er sich überhaupt nicht für Politik interessiert, obwohl unsere Oberstufenzeit genau in die Zeit der Studentenbewegung gefallen ist und in der Klasse selbstverständlich heftig diskutiert wurde. Aber Dieter schien sich nur für Vokabeln und Fußball zu interessieren. Deshalb sind beim ersten Abituriententreffen alle aus allen Wolken gefallen, als er nach einigen Bier und einigen Gläschen Schabau in einer ungemein heftigen Art und Weise über Ausländer im Allgemeinen und solche aus dem arabischen Raum im Besonderen hergezogen ist. Ich will das hier nicht wiedergeben, habe mir im Nachhinein aber gedacht, dass er mit solchen Aussagen selbst an einem AFD-Stammtisch auf Widerstand stoßen würde.


Er hat wohl gedacht, ich sei ein Stück weit gleicher Meinung wie er, weil ich auch Fernsehsender und andere Medien wegen ihrer politischen Ausrichtung gerne heftig kritisiere und bei dem Abituriententreffen gesagt habe, dass ich heute kein Linker mehr sei wie in lange vergangenen Studententagen.


Das Schema allerdings wiederholte sich noch ein paar Mal. Erst Alkohol, dann aggressive Schimpftiraden. Meine Frau wollte ihn nach einem seiner derartigen Auftritte nicht mehr sehen. Und er war intelligent genug, um zu merken, dass er damit nicht überall gut angekommen ist. Im Grunde nirgends gut angekommen ist. In manchen Momenten war er sich selbst peinlich. Dann sagte er, er wisse auch nicht, woher all diese Aggressionen in ihm kämen, aber sie seien einfach zu stark. Als Lehrer, so berichtete er, habe er sich immer beherrschen müssen und niemand habe etwas von seiner wirklichen Meinung geahnt.


Im Grunde, so scheint mir, war er einsam. Ich hatte ja gedacht, er sei deswegen so begeisterter Liblarer, weil er dort so viele Freunde hatte. Meine Jungs, sagte er öfters, und ich war der Meinung, er meine damit seinen Freundeskreis und nicht nur seine beiden Söhne. Langsam ist mir klar geworden, dass er gar keine Freunde in Liblar hatte. Nie haben wir auf unseren gemeinsamen Spaziergängen durch den Schlosspark, unseren Besuchen in der Eisdiele oder auf Wanderungen durch die Ville jemanden getroffen, mit dem er befreundet gewesen wäre. Oder wenigstens einen ehemaligen Kollegen. Mag ein Zufall gewesen sein, aber er hat auch nie von Freunden gesprochen, jedenfalls nicht von alten Oberliblarern. Der Künstlerfreund in der Eifel und der C., ein Liblarer Neubürger - jemand anderen hat er nie erwähnt. Vorher war da noch der reiche Erbe aus dem Nachbardorf gewesen, der recht früh verstorben war. Vom diesem wusste er erstaunliche Dinge zu berichten, da hatte er die Kreise kennen gelernt, in denen man sich ohne zu zögern im Restaurant eine Flasche Wein für 500 Euro empfehlen lässt und dann, weil es so gut geschmeckt hat, noch eine für 800 Euro. Dieser Erbe hatte ihm auch Flug und Eintrittskarte für das Konzert der Rolling Stones in Berlin spendiert, beides zu überhöhten Preisen, aber was soll’s - dieses Konzert, so klang es, wenn er davon erzählte, war eines der Highlights in Dieters Leben.


Dem Erben verdankte er auch seinen dicken Audi, ein feines Auto mit feiner Innenausstattung, das Dieter standesgemäß erschien. Das Kennzeichen (BM - DD) zeigte den Anspruch, denn das „DD“ stand für „Don Dieter“.  An der Rolle als Don hatte er Spaß. Dazu gehörte auch, dass er (fast) jeden Abend in sein italienisches Lieblingsrestaurant in Liblar ging und dort ein feines Menü zu sich nahm, nur durch einige Zigarettenpausen unterbrochen.


Kochen, so dürfte er gedacht haben, ist Frauensache. In seinem Appartement hatte er zwar eine kleine Kochecke, die aber, so sagte er, nur zum Kaffeekochen benutzt wurde. Vor dem Frühstück und beim Frühstück gab es eine Zigarette, manchmal auch nur Kaffee und Zigaretten, mittags wurde der Hunger ebenfalls mit Nikotin bekämpft. Zur Not eine Scheibe Brot mit irgendetwas, was im Kühlschrank lagerte. Er war ja schließlich der Don und keine Hausfrau, die sich um dergleichen zu kümmern hatte. Nun lebte er zwar alleine, hatte aber eine Frau - Zugehfrau hat man früher gesagt - die wenigstens teilweise der Rolle der Mutter oder der treusorgenden Ehefrau übernahm, indem sie die Wohnung putzte, die gesammelten Kaffeetassen und Gläser spülte, die Aschenbecher leerte, die leeren Flaschen entsorgte, selbstverständlich auch seine Wäsche wusch und anschließend fein gefaltet in den Schrank legte. Und wenn die Frau nicht kam, blieb halt alles liegen. In einem solchen Moment habe ich ihn einmal besucht - das Bad befand sich in einem unbeschreiblichen Zustand, was Dieter nicht zu beunruhigen schien, irgendwann würde die Frau das wieder hinkriegen.


Überhaupt passte seine Wohnung nicht zu seinem Image als Don Dieter. Ein großer Raum mit schrägen Wänden, einem kleinen Bad und einem architektonisch völlig mißglückten Flur. Als Highlight zwei Balkone. In mehreren Regalen viele Bücher, ohne ersichtliche Ordnung, Bücherstapel auf dem Boden hier und dort. Das schien ihm zu seinem Image als Literat zu passen. Den Teppichboden hätte jeder sofort durch einen neuen ersetzt, denn auch das eifrigste Bemühen seiner Zugehfrau ließ die zahlreichen Beschädigungen und Flecken nicht verschwinden. Vor dem Fenster lag eine Matratze auf dem Boden, daneben der unvermeidliche Aschenbecher. Ein Schreibtisch mit einem alten Laptop drauf, auch da überall Bücher und Hefte. Die Sitzgarnitur war in einem so schlechten Zustand, dass sie niemand mitgenommen hätte, hätte man sie auf die Straße gestellt. Irgendwann hat sich seine Schwester erbarmt und ihm etwas neues Gebrauchtes hingestellt. Meinst du, das war nötig, hat er mich gefragt. 


Der alte Laptop hatte einen schlechten Bildschirm, nicht augenfreundlich für jemanden, der viel schrieb. Ich habe lange versucht ihn zu überreden, sich etwas Neues zu kaufen. Er wollte nicht. Er lehnte Computer sowieso ab. Zwar benutzte er viel sein iPhone, das ihm sein Sohn geschenkt hatte, aber an der Computerarbeit hatte er keinen Spaß und er versuchte erst gar nicht, zu begreifen, wie man das alles nutzen konnte oder sich zu erarbeiten, wie man einen Text gescheit formatiert. Technik und Basteln waren, wie oben gesagt, nicht sein Ding. Also lehnte er all den modernen Kram ab und pflegte sein Image als traditioneller Büchermensch.


Er las viel und berichtete mir von seinen Neuerwerbungen und Neuentdeckungen. Welche Art von Literatur er schätzte, habe ich nie so recht begriffen, gerne erwarb er in einem Antiquariat recht entlegene Werke.


Was ich nie verstanden habe: Wofür hat er Geld ausgegeben? Als Studiendirektor hatte er aufgrund seiner vielen Dienstjahre die maximale Rentenhöhe erreicht, sein Appartement war nicht teuer, für Kleidung gab er sehr wenig aus, Hobbys hatte er keine. Keine? Außer vielleicht das Unterrichten, denn er gab auch in seinem Ruhestand immer Nachhilfeunterricht. Zu saftigen Preisen, die die Leute offenbar gerne bezahlten, da er als Sprachlehrer so erfolgreich war. Manchmal unterrichtete er auch Fußballer oder Mitarbeiter von Firmen. Da waren seine Preise dann noch höher. Dieses „Hobby“ also kostete nichts, es brachte noch einiges zusätzlich in die Kasse. Wo ist sein Geld geblieben? Ich habe es nie verstanden. Er fuhr einen Gebrauchtwagen,  hat nicht an der Börse spekuliert und besaß kein Wertpapierdepot, Immobilien sowieso nicht. Erst in seinem letzten Lebensjahr hat er einen vergleichsweise lächerlichen Betrag in einen Wertpapierfonds investiert. 


Und seine Reisen? Klar, er ist mindestens dreimal im Jahr verreist, immer alleine, immer mit Rucksack. Die Flüge habe ich ihm gebucht, weil er irgendwelche Probleme mit der Online-Buchung hatte und - wie gesagt - keinerlei Lust, diese Probleme anzugehen. Dabei hat er immer peinlich genau, ja penibel darauf geachtet, dass die Flüge ja nicht zu teuer waren. 14,99 Euro war sein Lieblingspreis. Kein Gepäck, keine Sitzplatzreservierung. Keine Langstreckenflüge, weil man da zu lange nicht rauchen kann, vor Ort keine Mietwagen. Er fuhr dann mit lokalen Bussen und suchte sich eher preiswerte Unterkünfte irgendwo auf einem Dorf. Nein, solche eine Reise - nie länger als 10 Tage - dürfte nur so viel gekostet haben, dass am Ende des Monats von seiner Rente immer noch etwas übrig geblieben ist. 


Nun, ich habe so manches nicht verstanden. Und Dieter war auch nicht jemand, der es den Menschen leicht gemacht hätte, einen Blick hinter die Kulissen der Rollen, die er spielte, zu werfen. Und er spielte immer Rollen, die Schauspielerei war neben seiner enormen Begabung für Sprachen ein Kern seines Wesens. Vielleicht so sehr, dass er gar nicht mehr wusste, wie und wer er wirklich war.

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