Wolfgang Thomas
Wolfgang Thomas
Als sich die Schüler – Schülerinnen gab es im städtischen
Gymnasium Brühl damals nicht - der OIIa, der Obersekunda, wie das damals hieß,
nach den Sommerferien in ihrem Klassenraum einfanden, waren da drei oder vier
neue Schüler. Sitzenbleiber, die die Jahrgangsstufe 11 wiederholen mussten.
Einer davon war Wolfgang Thomas. Er kam wie sein Mitsitzenbleiber und langjähriger
Freund S. aus Wesseling. Niemand von uns kam aus Wesseling und ich habe nie
erfahren, wieso die beiden den altsprachlichen Zweig des Brühler Gymnasiums
besucht haben. Interesse an den alten Sprachen kann es nicht gewesen sein. Die
beiden machten, wie wir fast alle, keinen Hehl daraus, dass ihnen der Latein-
und erst recht der Griechischunterricht herzlich egal, wenn nicht gar zuwider
war.
An den anderen Fächer, so stellte sich bald heraus, zeigte
Wolfgang, den bald alle Tommy nannten, auch kein gesteigertes Interesse. So
wenig wie möglich machen, um so gerade durchzukommen, war seine Devise. Was ihm
dann auch ohne weitere Ehrenrunden gelungen ist.
Die Lehrer hielten nicht viel von ihm und er nicht viel von
den Lehrern. Unter uns Schülern allerdings eroberte er sich schon bald eine
besondere Stellung. Nicht nur, weil er zwei Jahre älter war als die meisten von
uns (er muss spät eingeschult worden sein), und nicht nur, weil er nicht auf
den Mund gefallen war und oft das große Wort in der Klasse führte, was ihn bald
zum Klassensprecher machte. Er trug immer ein Tweedsakko, der S., der neben ihm
saß, sommers wie winters einen blauen Blazer mit goldenen Knöpfen, dazu
selbstverständlich keine Jeans, sondern eine korrekte Stoffhose. Und was der
Wolfgang alles hatte! Ein Tonbandgerät der Marke Grundig, das gute Modell
sogar. Einen Plattenspieler natürlich und die dazugehörigen Schallplatten. Eine
Kamera, eine Posaune, ein Banjo und eine Gitarre. Und eine richtige, echte
Vespa. Keiner von uns hatte auch nur irgendein altes Moped - und der hatte eine
neu beim Händler gekaufte Vespa? Musste der großzügige und wohlhabende Eltern
haben! Dass dem nicht so war, dass er sich seine Besitztümer durch harte
Ferienjobs – z. B. bei einem Metallbaubetrieb oder in einer der chemischen
Fabriken Wesselings - erarbeitet und teilweise gegen den erklärten Willen
seines Vaters angeschafft hatte, habe ich erst viel später erfahren.
Und wo eine Vespa ist, da findet sich bald ein Mädchen, dass
davon träumt, sich auf den Rücksitz setzen und den Fahrer umklammern zu dürfen:
Seine Freundin, mit der er – den Ausdruck hat er sein Leben lang beibehalten –
„in die Kiste ging“. Unerhört. Niemand aus der gesamten altsprachlichen
Obersekunda hatte eine feste Freundin, nicht einmal der Sch., der auch ein Jahr
älter war und wegen seiner langen Haare und als Drummer in der eigenen Band
doch alle Chancen bei den Mädchen hatte.
Seine Welt war nicht die Schule, sondern das Wesselinger
Schwimmbad. Begeistert erzählte er von seinen Nachmittagen im Freibad, all den
hübschen Mädels, die dort zusammen mit ihm abzuhängen pflegten. Ich glaubte ihm
jedes Wort. Vielleicht hätte ich mal im Sommer nach Wesseling fahren sollen, um
mich auch im Freibad nach potentiellen Freundinnen umzuschauen. Aber Wesseling
war weit weg, ohne eigenes Moped hätte ich es gar nicht geschafft bis dorthin.
Und ich bin, obwohl ich mich mit Wolfgang langsam aber sicher angefreundet
habe, nie auf den Gedanken gekommen, ihn einmal zu besuchen.
Wir machten Abitur. Durch seine Vermittlung arbeitete ich in
den Wochen vor Beginn des Studiums im Schichtdienst in einem der Werke in
Wesseling. Und um dorthin kommen zu können, kaufte ich ihm für 300 DM seine
Vespa ab, da er sich ein neues, stärkeres Modell mit 125ccm zugelegt hatte. Mit
der Vespa besuchte ich ihn nun ab und an in Wesseling, wir diskutierten über
Musik, Literatur und Filme, konnten uns nicht darüber einigen, ob Chris Barber
gute Musik mache oder nicht. Wolfgang liebte als einer der ganz wenigen seiner
Generation den Dixieland-Jazz und ist seinem Chris Barber über Jahrzehnte treu
geblieben.
Dann trennten sich unsere Wege etwas, weil ich zur
Bundeswehr eingezogen worden bin und er seinen Zivildienst angetreten hat. Er
in der Uni-Mensa in Bonn, ich bei Kassel. Mit seiner Zivildienst-Stelle in Bonn
schien er ein gutes Los gezogen zu haben, weil Bonn nicht weit von Wesseling
entfernt liegt. Aber zwei Jahre lang Mädchen für alles in einer Großküche waren
dann doch kein Vergnügen und das Wohnen bei den Eltern wurde für Eltern und
Sohn zu einer immer größer werdenden Belastung, mit seinem Vater hat er sich
nach dem Auszug nie wieder versöhnt.
Er wollte raus aus dem Schlamassel und entschied sich für
ein Studium in Berlin: Deutsch und Politik, Lehramt, der S. kam mit. Beide
fanden jeweils eine günstige Wohnung im damals noch recht heruntergekommenen
Berlin-Moabit. Dort habe ich ihn mit meinem ersten Auto (und meiner ersten
Freundin) bald einmal besucht. Keine schöne Gegend, dieses Moabit, wirklich
nicht. Die Wohnung allerdings war recht groß, hatte einen wunderschönen alten
Kamin, eine Toilette allerdings nur ein halbes Stockwerk tiefer im Flur. Mit
berechtigtem Stolz zeigte er mir die Einrichtung, die er teils mit
erstaunlichem Geschick selbst gebaut, teils günstig gekauft hatte. Seine
aktuelle Freundin, die auch aus dem Vorgebirge zwecks Studium nach Berlin
gezogen war, kam zu Besuch und wir verbrachten eine schöne Zeit in Berlin. Er
nahm mich auch einmal mit in „seine“ Uni zu einer der politischen Versammlungen,
die Anfang der 70er Jahre dort fast täglich stattfanden. Ein voller Saal, der
Redner verkündete etwas, das ich nicht verstand, auf der einen Seite des
Hörsaals standen lauter Gestalten mit schwarzen Fahnen. Das sind die
Anarchisten, meinte Wolfgang, zu meiner Beruhigung aber schien er keinen
weiteren Kontakt zur Politszene Berlins zu haben, schien sich keiner der
zahlreichen Gruppierungen angeschlossen zu haben. Was nicht heißen soll, dass
er sich aus der Politik rausgehalten hätte. Im Gegenteil. Er redete gerne und
lange über politische Entwicklungen, der politischen Linken hat er sich sein
Leben lang zugehörig gefühlt, Politskandale und TV-Sendungen wie „Monitor“
waren sozusagen sein Spezialgebiet. Mit dem Fach Politik schien er das rechte
getroffen zu haben, die Germanistik lag ihm nicht.
Der Fleiß, der ihm schon in der Schule gefehlt hatte, hat
ihn allerdings auch bei seinen Studien nicht gepackt. Er sprach nicht viel über
die Inhalte seines Studiums, dafür ums so mehr über all die Ablenkungen und
Vergnügungen, die das Berliner Leben so bot.
Einmal kam er mich im Rheinland besuchen, mit seiner Vespa
natürlich. Als eingefleischter Vespa-Fan ist er tatsächlich öfters mit dem
Roller von Berlin nach Wesseling gefahren, ja bis ans Mittelmeer gefahren.
Erstaunlich, fand ich, aber etwas anderes als eine Vespa kam für ihn nicht in
Frage. So blieb es während seiner Studienzeit, die sich etwas länger hinzog,
als das unbedingt nötig gewesen wäre. Drei oder vier Jahre hatten wir keinen
Kontakt, da meldete er sich plötzlich mit einem Hilferuf. Er hatte nur noch
drei Wochen Zeit, um seine Staatsarbeit fertig zu stellen, ohne Hilfe würde er
es nicht schaffen. Da ich damals schon an meiner Dissertation gearbeitet habe
und keine festen Termine hatte, habe ich mich kurzerhand ins Auto gesetzt und
bin nach Berlin gefahren. Dort saß der arme Wolfgang mit einem Haufen von Notizen
und Kopien und hatte, wie sich herausstellte, noch keine einzige Seite
geschrieben. Er hatte, wie er erzählte, seine Pflichtscheine immer bei
„fortschrittlichen“ Dozenten gemacht, die entweder Gruppenarbeit zugelassen
oder als Prüfung ein „Kolloquium“ veranstaltet hatten, bei dem man nur gut
reden musste. Und das konnte er ja. Von den Grundzügen des wissenschaftlichen
Arbeitens hingegen hatte er nur eine ungefähre Vorstellung. Nach zwei Wochen wirklich
sehr intensiver Arbeit war das Ding fertig, irgendwas mit Brecht und das
Arbeitertheater, wenn ich mich recht erinnere. Zum Dank schenkte er mir sein
Banjo und einige Noten. So lernte ich daheim ein paar Lieder spielen, weil ich
aber einen Lehrer gebraucht hätte, der mir die verschiedenen Techniken gezeigt
hätte, verlor ich bald die Lust. Das Banjo landete im Keller, was ihm gar nicht
bekommen ist, so dass ich es irgendwann entsorgt habe, was ich ihm nie
gebeichtet habe.
Wir wurden also beide Lehrer, ich heiratete, wir bekamen
eine Tochter, kauften ein Haus. Er zog aus seiner Studentenwohnung in eine
geräumige Wohnung, in der er bis zuletzt gewohnt hat, und kaufte sich zu meiner
Überraschung ein Auto, zeitweise hatte er auch ein dickes Motorrad. Und wie es
so seine Art war: Konnte er vorher mit vielen Argumenten darlegen, wieso ein
Roller das richtige Gefährt sei, so konnte er jetzt darlegen, weshalb es ein
Audi-Kombi sein musste. Lange Zeit ein Audi 100, dann der A6 als Sechszylinder.
Ein Motor, dessen Vorzüge er immer wieder gepriesen hat.
Das große Auto war im Grunde überflüssig, in der Stadt stand
es oft wochenlang auf seinem Parkplatz. Aber er liebte Frankreich, vor allem
die Atlantikküste. Jahrelang ist er immer wieder in den gleichen Küstenort
gefahren, die ganzen langen Sommerferien lang. Immer Camping, immer der gleiche
Platz. Der Atlantikstrand war jetzt das, was früher das Wesselinger Freibad
gewesen war: High Life, umgeben von hübschen und willigen Mädels. Auf dem
Rückweg hat er mich manchmal besucht, fuhr dann weiter nach Berlin. Einmal hat
er mich ein Stück mitgenommen auf dem Weg zu seinem Atlantikstrand, wir
verbrachten ein paar Tage zuerst an der Maas, dann in dem Städtchen Avalon. Im
Zelt, natürlich, etwas anderes kam nicht in Frage. Es war schön, mit ihm durch
Frankreich zu fahren. Er fuhr grundsätzlich über kleine Landstraßen, Autobahn
lehnte er ab. Und erfreute sich an der Landschaft, an Details, die ich
übersehen hätte, war sichtbar in seinem Element. Und da gute Laune bekanntlich
ansteckt, war ich traurig, als die Zeit vorbei war und ich zurück musste, denn
wenn man ein zweijähriges Kind hat, kann man nicht einfach sechs Wochen durch
Frankreich trudeln.
Wir sahen uns jetzt nur sporadisch. Als ich aus einem Grund,
den ich vergessen habe, mal nach Berlin musste, habe ich ihn besucht. Hoppla,
welch eine schöne und große Wohnung er hatte: 123 qm mit einem kleinen Balkon
in dem, was die Makler „zentrumsnahe bevorzugte Wohnlage“ nennen. Altbau, hohe
Decken, Stuckdecken, ein riesengroßer Jugendstil-Kachelofen, Parkettböden
überall. Heute kaum bezahlbar, damals in der Vor-Wendezeit war die Miete für
einen Studienrat kein Problem. Diese
Wohnung lag ihm immer am Herzen. Er hat viel Geld reingesteckt, hat versucht,
jedes Detail immer noch etwas schöner zu machen und jede Ecke noch optimaler zu
nutzen.
Wer sich jetzt fragt, wieso er alleine auf 123 m2 nicht
genug Platz hatte, der kennt seine Vorlieben nicht. Hatte er als Schüler einen
Plattenspieler, so hatte er jetzt drei oder vier, einer immer besser als der
andere. Er entwickelte einen erstaunlichen Fleiß, wenn es darum ging, immer
noch eine bessere Musikanlage anzuschaffen, bessere Kameras, eine
semiprofessionelle Dunkelkammer, ein Tonstudio. Dazu viele, viele Bücher,
tausende von Schallplatten und CDs. Die Sachen, die er kaufte, hat er gehegt
und gepflegt. Und weil er sich von nichts trennen mochte, verfügte er bald über
eine Stereoanlage in jedem Raum, fünf, wenn ich mich nicht irre, darunter die
„Wohnzimmer-Anlage“ mit Lautsprechern, die mehr gekostet haben, als mein
damaliger VW-Kombi. Diese geliebten Sachen überhaupt anfassen zu dürfen, war
schon eine Auszeichnung. Manches freilich durften auch die geliebtesten
Geliebten und die engsten Freunde nicht: Sein Auto steuern beispielsweise oder
sich auf sein Rennrad setzen.
Seine Liebe zu seinen Sachen und seine unerschütterliche
Überzeugung, nur er könne die Wohnung optimal einrichten, führten allerdings zu
einem Problem: Für noch jemand war dort kein Platz. So kamen und gingen die
Freundinnen, aber keiner mochte er erlauben, bei ihm einzuziehen. Getrennte
Wohnungen, das war sein Dogma. Nicht unbedingt nach jederfraus Geschmack.
Um 1990 entdeckte er zwei neue Leidenschaften: Rennradfahren
und Tanzen. Er machte einen Tanzkurs nach dem anderen, war zeitweise
Tanzlehrer. Eine prima Gelegenheit, mal wieder neue Frauen kennenzulernen. Wie
alles, was er anfing, betrieb er auch das Rennradfahren mit großem
Enthusiasmus, studierte Bücher, freundete sich mit dem Besitzer eines Radladens
an, kaufte sich immer bessere Räder. Die standen allerdings nicht nur dekorativ
in seiner Wohnung, sondern wurden intensiv genutzt. Er trainierte und trainierte,
radelte Alpenpässe rauf und runter. Immer mit dem Rennrad. Mehrtägige Radtouren
lehnte er ab. Als er mich in der Zeit einmal besucht hat, machten wir zusammen
eine Radtour um die Braunkohle-Tagebaue herum. Danach war ich völlig fertig, er
keine Spur.
Von seiner Tätigkeit als Studienrat sprach er nicht viel. Er
schimpfte auf Kollegen, stöhnte über die vielen Klassenarbeiten. Vom Unterricht
sprach er nicht, lieber von den beiden Kollegen, mit denen er sich regelmäßig
zur Sekt- und Champagnerverkostung getroffen hat. Denn auch in dieses Gebiet
hat er sich mit Fleiß und Ausdauer eingearbeitet, bis er alles über Weine
wusste. Glanzpunkte seines Lehrerdaseins schien das zu sein, was ich überhaupt
nicht mochte: Klassenfahrten. Davon erzählte er gerne und lange und ich bin der
Überzeugung, dass Fahrten und Freizeit mit Jugendgruppen seine eigentliche
Berufung waren.
Die Schule machte ihm immer weniger Spaß. Als ich ihm einmal
erzählte, dass ich die Klassenarbeiten nicht ungern und schnell durchgesehen
habe, war er geradezu beleidigt und mutmaßte, ich würde mich selbst belügen. Er
gehörte zu den Lehrern, die die Korrektur der Arbeiten möglichst lange
aufschieben, sich dann abends mit einem Glas Rotwein hinsetzen, ein
umfangreiches Bewertungsschema ausarbeiten und dann mit dem ersten Heft beginnen,
worauf das zweite Glas fällig ist. Da Alkohol der Konzentrationsfähigkeit
bekanntlich nicht zuträglich ist, wird die Sache immer zäher und zieht sich bis
in die frühen Morgenstunden hin. Kurz ins Bett, aufstehen, sofort ins Auto, als
Frühstück eine Büchse Coca-Cola, Unterrichtsbeginn. Seine Gesundheit schien
unerschütterlich.
Als er sagte, er müsse mal raus aus dem Schultrott und ein
Sabbatjahr beantragte, hat mich das nicht gewundert. Da hatte er nicht viel
mehr als vielleicht 15 Dienstjahre hinter sich. In Berlin war man damals
großzügig: Er durfte sein Sabbatjahr sofort machen, also ohne sieben Jahre
durch Gehaltsverzicht „anzusparen“. Er fuhr nach Australien und Neuseeland,
kaufte sich dort ein Auto und verbrachte das gesamte Jahr auf
Besichtigungstour. Eine tolle Zeit, sagte er. Viele, viele Dias hat er
unterwegs gemacht, aber niemandem gezeigt. Erst als ich ein paar Jahre später
darauf gedrängt habe, projizierte er eine Auswahl auf seine Leinwand und
versicherte, ich sei der erste, der diese Bilder – schöne Landschaftsaufnahmen
- zu sehen bekomme.
Der Übergang vom Sabbatjahr in den Schuldienst ist ihm dann
nicht gelungen. Am ersten Schultag hatte er Probleme mit der Stimme, am zweiten
versagte die Stimme ganz, fühlte er sich insgesamt so „down“, dass er sich in
eine Klinik für psychosomatische Störungen begeben hat. Dort ist er 9 Monate
geblieben, war freilich anschließend nicht wieder „dienstfähig“, sondern ließ
sich sofort wieder krankschreiben, bis der Amtsarzt ihn in Rente schickte.
Rentner nach so wenig Dienstjahren: Auch da war man in Berlin damals großzügig
und rundete die Pension nach oben auf, so dass er sich mit 47 oder 48 Jahren
auf ein schönes Rentnerdasein freuen konnte.
Langeweile hatte er nicht. Er genoss die Ruhe, beschäftigte
sich noch intensiver mit seinen zahlreichen Hobbies, machte für einen
Künstlerfreund Fotos und Reproduktionen, half in einem Antiquariat aus und ließ
es sich gut gehen. Eine Bekannte verschaffte ihm die Erlaubnis, bei den
Generalproben in der Philharmonie dabei zu sein, Konzerte, von denen er lange
geschwärmt hat.
Um das Jahr 2000 herum hat er die Frau kennen gelernt, die
bis zum Ende seine Lebensgefährtin bleiben sollte. Mit getrennten Wohnungen und
nicht ohne Konflikte, aber über mehr als zwei Jahrzehnte lang.
Mit den Campingurlauben in Südfrankreich war nun Schluss,
zähneknirschend musste er seiner Lebensgefährtin nachgeben, die sich weigerte,
im Zelt zu schlafen. Nun fuhren sie öfters ins Wendland (immer in die gleiche
Ferienwohnung), nach Mallorca (immer ins gleiche Resort) und nach Sylt, wo die
Tochter der Lebensgefährtin zweitweise in großes Haus besessen hat.
Eine ganze Zeitlang haben wir uns nicht gesehen, weil wir
uns heftig gestritten hatten, das muss so um 2002 gewesen sein. Ein paar Jahre
später meldete er sich aus heiterem Himmel wieder. Er hatte jetzt einen
Computer. Erstaunlicherweise, denn selbst als alle um ihn herum längst einen
Computer hatten, lehnte er den ganzen „Kram“ ab. Brauche ich nicht. Basta. Dann
allerdings ist er direkt richtig eingestiegen, hat alle möglichen „Kram“
gekauft und mir Emails geschrieben. Viele Emails. Manchmal ein paar Wochen
nicht, dann mehrere am Tag.
So erfuhr ich auch sofort, dass er mit dem Fahrrad gestürzt
war. Ein böser Sturz, heftige Prellungen am ganzen Oberkörper. Er, der über
gefährliche Alpenpässe geradelt war, war bei einem harmlosen Sonntagsausflug
mit den dünnen Rennradreifen in eine Querrinne geraten.
Danach war er nicht mehr der alte. Vorher war er nie zum
Arzt gegangen. Erstens, weil er den Ärzten nicht über den Weg traute, zweitens,
weil er einfach gesund war. Stolz berichtete er mir einmal, einen wie hohen
Betrag ihm seine Krankenkasse zurückerstattet hatte, weil er wieder ein ganzes
Jahr keine Leistungen beantragt hatte. War ihm vorher keine körperliche
Anstrengung zu viel, so klagte er jetzt über Schmerzen und Schlappheit. Er nahm
zu, der Bauch wölbte sich unübersehbar, da er kaum noch trainierte, sondern auf
dem Sofa seiner neuen Leidenschaft nachging, einem Computerspiel (RR3), dem er
unermüdlich viele, viele Stunden widmete, um sich immer noch schneller
Rennautos kaufen und neue Rundenrekorde aufstellen zu können. Er ging zu
verschiedenen Ärzten, tippte selbst auf Herzinsuffizienz, aber die Ärzte
konnten nichts finden, bis einem der Ärzte auffiel, dass der PA-Wert
unglaublich hoch war. Alarmstufe 1, aber der Prostatakrebs war schon so weit
vorgedrungen, dass trotz eines sofortigen operativen Eingriffs von Heilung
keine Rede sein konnte.
Mehrere Jahre lang ließ sich der Krebs dank Chemotherapie in
Schach halten. Als ich ihn zwei Jahre nach der Diagnose in Berlin besuchte,
schien es ihm gar nicht so schlecht zu gehen. Wir feierten gemeinsam Sylvester,
er bewirtete uns wie immer großzügig, trank wie immer von allen am meisten
Alkohol und ging wie immer als letzter ins Bett, um morgens als erster
aufzustehen, um für alle ein üppiges Frühstück zuzubereiten.
Noch im März dieses Jahres schrieb er mir Emails und wir
diskutierten über verschiedene Kameramodelle. Im Mai wollte er mit seiner
Lebensgefährtin wieder nach Sylt reisen. Wenn ich es hinkriege, schrieb er. Er
kriegte es hin, fuhr nach Sylt, aber meldete sich nicht mehr. Das Schreiben am
Computer strenge ihn zu sehr an, schrieb mir seine Lebensgefährtin, sein
Zustand habe sich nach dem Aufenthalt am Meer plötzlich extrem verschlechtert.
Im Oktober war seine Kraft zu Ende und er ist in seiner geliebten Wohnung
verstorben.
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