Unsern täglichen Traum

"Unsern täglichen Traum gib uns heute" - dieser Satz, der von Hans Arp stammen soll, ist dann von Kurt Marti in einem Gedicht verwendet worden. Und da der Kurt Marti nicht nur ein Dichter, sondern auch ein reformierter Pfarrer gewesen ist, ein "progressiver" dazu, hat dieser Satz Karriere gemacht. Das Träumen, so verstehe ich den Satz und so verstehen ihn vermutlich die Religionspädagogen und Kirchentagsgruppenleiter, die ihn zum Titel von Unterrichtsstunden, Predigten und Arbeitsgruppen nehmen - man googele den Satz einmal, da wird man auf viele Quellen stoßen - das Träumen von einer besseren Welt ist für den Menschen so wichtig wie das tägliche Brot. So weit, so schön. Ist auch theologisch nichts gegen einzuwenden, denn dass mit dem täglichen Brot auch nicht Essbares, sozusagen Seelennahrung gemeint sein kann, ist ein exegetischer Gemeinplatz.
Das Dumme ist nur, dass dieser Satz ursprünglich gar nicht so gemeint war. Hans Arp - übrigens der Onkel von Udo Jürgens - hat in seinem Leben eine ziemliche Wandlung durchgemacht. Er hat diesen Satz vermutlich nie gesagt, sondern nur als Titel zu einer Sammlung von Erinnerungen und Gedanken gewählt, die 1955 erschienen ist. In dem Band selbst taucht der Satz nicht auf. Dafür aber so schöne Gedanken wie:

"Das Bilden des Künstlers sollte Träumen genannt werden statt arbeiten. Die Liebe wird auch eher Traum genannt als Arbeit"

Vermutlich ist die Überschrift genau so gemeint: Gott, gib uns täglich Kreativität und Liebe. Hans Arp hat übrigens in seinen frühen Jahren, als Dadaist, Religion, zumal die katholische, allenfalls als Spielmaterial benutzt, sich später der Theosophie zugewendet um dann 1943 zum Katholizismus zu konvertieren, mit den Jahren immer frömmer und kirchentreuer werdend.

Der Traum spielt im Dadaismus und Surrealismus bekanntlich eine große Rolle. Damals hätte man den Satz sicherlich nicht so fromm-positiv gemeint, wie ihn heute offensichtlich einige Kirchenvertreter verstehen, denn für die Surrealisten war das Reich des Traumes ja nicht ein Reich der schönen Zukunftsvisionen, man denke nur an Bunuels Film "Der andalusische Hund".

Sollte irgendjemand sich mal das Gedicht von Kurt Marti angesehen haben, dann würde er sehen, dass der dichtende Pfarrer den Satz wie die Surrealisten verstanden hat:

unsern täglichen traum gib uns heute
träume die lassen dich fallen
wie einen käfer vom turm
träume die decken dich zu
mit sommergeschrei
träume die füttern dich 
ohne erbarmen mit jugend
träume die brechen dir zahn nach zahn aus


Na also, das könnte auch von Bunuel sein oder von anderen Surrealisten, die mit dem Vaterunser nichts am Hut hatten, im Gegenteil. Und wüsste ich nicht, dass Kurt Marti ein Pfarrer ist, der sonntäglich vor seiner Gemeinde predigt, würde ich den Einleitungssatz auch als eine gezielte Blasphemie verstehen. 
Sollen sich Psychologen darüber streiten, ob man überhaupt träumen muss. Traum- und Schlafforscher können ja einiges dafür aufführen, dass der Traum als solches lebensnotwendig ist. So lebensnotwendig, dass man Gott bitten kann, er mögen einem täglich einen Traum geben, so wie man täglich etwas zu essen haben möchte.
Aber Gott um schlechte Träume bitten, um Alpträume? Tut mir leid, da komme ich nicht mit.

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