Wir wissen wenig voreinander

Wir wissen wenig voreinander, haben alle geschrieben. Stimmt – wir wussten auch damals wenig voneinander. Viele lange Schuljahre ging man in die gleiche Klasse, von den Sitznachbarn wusste man vielleicht das eine oder andere. Oder von denen, mit denen man zusammen in Bus oder Bahn zur Schule pendelte. Von der Esser-Floten-Fuß-Schmitz-Ecke bis zur Loch-Haeusler-Schulz-Schliephak-Thomas-Ecke waren es nur ein paar Meter, aber viel zur Kenntnis nahm man sich nicht. Das mag auch daran gelegen haben, dass in der einen Ecke die Dialektsprecher sich gefunden hatten, in der anderen die, deren Eltern nicht aus dem Rheinland stammten. Wolfgang Thomas hatte es nur nach Wesseling verschlagen, weil sein Vater – ein preußisch-strenger Mann – bei Shell gearbeitet hat, die Verwandtschaft seiner Mutter stammte aus Polen. Wie Loch und Schliephak ging ihm das, was man so die rheinische Lebensart nennt, völlig ab: Statt „Jeder Jeck is anders“ war „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ die Devise.

Ein wenig verbunden hat uns, die wir da in der Ecke saßen, die Musik. Loch war nur so ein Mitläufer, aber Schliephak mit seiner unbedingten Begeisterung für die Rolling Stones, Schulz als Schlagzeuger und Fan der Yardbirds, Wolfgang Thomas als jemand, der stets durchblicken ließ, dass die ganze Pop-Musik ein wenig unter seinem Niveau war, und ich, der ich von der Klassik über Rock und Jazz alles aufsaugte, was ich in die Finger bekam – wir konnten stundenlang über die jeweils aktuellen Titel diskutieren.

Weil der Hermann es angesprochen hat. Keine Ahnung, wieso, aber der Wolfgang Thomas kam musikalisch aus einer sehr speziellen Ecke. Er hatte nicht zufällig ein Banjo und eine Posaune. Die Posaune, weil er zeitweise in Wesseling im Posaunenchor mitgespielt hat, das Banjo, weil seine Leidenschaft die Skiffle-Musik war, Lonnie Donegan war sein Favorit. Skiffle war im Grunde die Musik der Generation über ihm gewesen (Paul McCartneys erste Band hatte Skiffle gespielt), junge weiße Intellektuelle, denen Elvis und Co. zu vulgär waren, die Musik der Schwarzen zu wild und die Pop-Musik ihrer Zeit zu seicht. In die Ecke gehört auch der Chris Barber, von dem ich geschrieben habe. Der war schon Anfang der 60 in diesen Kreisen populär. Sein Erfolgsrezept war, dass er den wilden schwarzen Südstaaten-Jazz domestizierte und den intellektuellen, artifiziellen „coolen“ Jazz von Leuten wie John Coltrane und Miles Davis durch einen heiteren, mit dem musikalischen Geschmack des weißen kleinbürgerlichen Publikums kompatiblen Mitklatsch-Pop-Jazz ersetzt hat: 

Ice Cream - News Cream - everybody wants Ice cream,
Rock, oh rock my baby roll
Wenn i say Ice Cream - News Cream - everybody wants Ice cream,
Rock, oh rock my baby roll

Das war der größte Hit von Chris Barber – Sinn und Hintersinn haben wir damals nicht verstanden, und das nicht nur deswegen, weil wir Altsprachler gewesen sind …

Ich kannte und schätzte die Richtung damals, weil eine der ganz wenigen Platten, die meine 13 Jahre ältere Schwester besaß, eine LP mit „Hot Dixie“ war – die einzige LP übrigens, die ich noch heute besitze.

Mit Pink Floyd konnte Wolfgang Thomas nicht viel anfangen, irgendjemand besaß die erste und die zweite LP der Gruppe, aber auch mich hat das nicht vom Hocker gerissen. Erst nach 1990 habe ich mich für Pink Floyd begeistert – aber das ist eine andere Geschichte. Hendrix hielt er für einen Blender, womit er so unrecht nicht hatte. Begeistert haben wir uns schon zu Schulzeiten für Frank Zappa, dessen harmonisch und rhythmisch ausgeklügelte Musik, eine Fusion von Rock,  zeitgenössischer E-Musik und Jazz, kombiniert mit frechen „antibürgerlichen“ Texten, uns ungemein gefallen hat.

Aber zurück zu denen, die da in meiner Ecke saßen. Uns hat kaum etwas verbunden. Die Lebenswelten, aus denen wir stammten, waren grundverschieden. Darüber wurde nicht geredet, manches habe ich mir später zusammengereimt. Wolfgang Thomas stammte aus einem durchaus kleinbürgerlichen Milieu mit einem gewissen, hart erarbeiteten Wohlstand: Ein Haus für Werkangehörige in Wesseling, Urlaube im Zelt in der Eifel oder an der Mosel. Lochs Vater war Kraftfahrer, sie bewohnten, wenn ich mich recht erinnere, nur eine Etage in einer Siedlung in Köttingen, die Anfang der 50er Jahre für Flüchtlinge aus dem Osten gebaut worden war. Schulz sprach nie auch nur ein Wort über sein Elternhaus. Schliephak auch nicht – und das nicht ganz ohne Grund. Dass er nämlich, wie ich in meinem Nachruf kurz erwähnt habe, selbst dann, wenn es dazu eigentlich viel zu kalt war, seinen blauen Blazer getragen hat, hatte einen ökonomischen Grund: Er hatte nichts anderes. Und dass er – was mich immer sehr verwundert hatte, ja neidisch gemacht hatte – daheim so viele Freiheiten genossen hat, hatte auch einen handfesten Grund: Seine Mutter war alleinerziehend und kümmerte sich nicht viel um den Sohn, blieb öfters über Nacht weg. Sie wohnten in einer Wohnung im ersten Stock. Ich bin mal da gewesen. In Schliephacks Zimmer herrschte ein ziemliches Chaos. Alte, kaputte Möbel, zwei große uralte Radios dienten ihm als Lautsprecher. Ich hielt das damals für Ausdruck einer antibürgerlichen Attitude, passte ja zum Stones-Fan, tatsächlich stammte er aus dem, was man heutzutage prekäre Verhältnisse nennt, und es ist ihm im Grunde hoch anzurechnen, dass er ohne jegliche Unterstützung nicht nur das Abitur geschafft, sondern – nach einigen Irrungen und Wirrungen – sein Studium abgeschlossen hat.

Unterschiedliche Lebenswelten, die direkt nach dem Abitur auch aufeinandergeprallt sind, ein kleiner Culture Clash sozusagen. Ich weiß nicht mehr warum, aber Loch, Schliephak und ich sind im Sommer nach unserem Abitur auf die Idee gekommen, zusammen für drei Wochen in die Bretagne zu fahren. Ich hatte, weil ich für meinen Vater gearbeitet hatte, etwas Geld, Loch hatte ein Auto: Einen schon ziemlich betagten Renault R8, ein nettes, aber doch recht enges Wägelchen, das dann auch irgendwann mitten in Frankreich nicht mehr wollte und in die Werkstatt musste. So fuhren wir von Campingplatz zu Campingplatz und erkundeten einen Küstenort nach dem anderen. Die Stimmung allerdings wurde immer schlechter. Die beiden warfen mir vor, ich würde einfach die Route bestimmen, sie kümmerten sich freilich um nichts und warteten offenbar auf den Papa oder den Reiseleiter, der die Sache in die Hand nehmen würde. Tatsächlich, so würde ich es heute sehen, hatten beide überhaupt keine Erfahrung mit Urlaub, für sie war alles neu, während für mich durch viele Ski-Urlaube mit meinen Eltern und die Fahrten zu Regatten mit dem Segelclub auch nach Frankreich dergleichen ganz normal war. Vor allem der Schliephak hatte keine Ahnung, wie man sich in so einem Seebad, erst recht einem französischen, als junger Mann zu benehmen hatte, und lief in einem ausgeleierten Doppelripp-Unterhemd am Strand entlang. Er hatte nichts anderes, ist mir heute klar, damals war es mir peinlich und er war, als ich ihn darauf hinwies, total beleidigt. Zum Knall kam es, als die beiden einen Schiffsausflug machen wollten, ich aber nicht; den Standard-Ausflug zu irgendeiner Insel, den alle machten. So etwas geht mir generell gegen den Strich. Wo alle hinfahren, fahren wir nicht hin, war bei meinen Eltern die Devise. Außerdem war mir das Schiff zu teuer – ich hatte für die drei Wochen nur 330 DM in der Tasche – und sie meinten, mit meinem Geiz würde ich ihnen die Ferien verderben. Auch das ein Culture Clash: Geiz ist in meiner Familie völlig normal, man nennt es Sparsamkeit. Mein Vater, der damals gerade zwei Miethäuser bauen ließ, trug nicht ohne Stolz die alten Anzüge seines Schwiegersohns. Geiz, so habe ich gelernt, muss man sich psychologisch gesehen leisten können: Wer jeden Groschen zweimal rumdrehen muss, will oft seine Armut, weil sie ihm peinlich ist, verbergen und tut deswegen so, als ob ihm Geld nichts bedeute.

Doch wie dem auch sei: Wir alle, die wir da zusammen durch die Bretagne fuhren, waren frustriert, weil sich das Ferienglück nicht einstellen wollte. Der Elefant im Raum, über den keiner von uns sprach, war, dass wir unter uns blieben und keinen Kontakt zu den Leuten fanden, vor allem nicht zu den Mädels: Wo waren sie nur, die scharfen jungen Französinnen, die wir aus den Filmen der Nouvelle Vague kannten, Mädels, die nur darauf warteten, mit uns ins Zelt zu krabbeln? Keine zu sehen, welche Enttäuschung. Die Wahrheit ist: Sicherlich waren im Hochsommer in den Strandbädern der Bretagne viele hübsche Töchter, die auf Abenteuer aus waren. Aber selbst wenn sie in der Strandbar am Nebentisch gesessen hätten, hätten wir nicht gewusst, wie wir es hätten anstellen sollen. Ja, mehr noch: Hätten die netten Französinnen vom Nachbartisch uns zugezwinkert, wir hätten schnell bezahlt und hätten uns wieder in unserem Auto verkrochen. Wir hatten halt alle zwar das Reifezeugnis in der Tasche, waren aber ziemliche Versager.

Den Loch habe ich, falls ich es nicht vergessen habe, nie wieder gesehen. Er hat irgendwas geisteswissenschaftliches in Bonn studiert und hatte zeitweise ein Zimmer am Stadtrand von Bonn.  Viele Jahre später, es muss so 1988 gewesen sein, habe ich den Schliephak mal bei Wolfgang Thomas in Berlin getroffen. Er war ziemlich zugeknöpft, ich wohl auch. Wir haben wenig miteinander anfangen können. Nur über Computer haben wir diskutiert. Ich hatte damals gerade meinen ersten, einen Schneider Joyce, den ich gebraucht habe, weil ich damals nebenbei für einen Verlag geschrieben habe, er einen richtigen PC. Und während ich die Meinung vertreten habe, so ein Ding braucht kein Mensch, allenfalls beruflich, schwärmte er von den Computerspielen, mit denen er sich stundenlang beschäftige. Er hat sich dann früh verabschiedet und bald darauf auch den Kontakt zu Wolfgang Thomas abgebrochen, der doch lange sein bester Freund, wenn nicht gar eine Art Vater-Ersatz gewesen war. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.

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